Blog

Alles eine Frage des Glaubens

Bei der ersten Begegnung mit Schwester Juliana Seelmann, deutet nicht Vieles darauf hin, es mit einer Ordensschwester zu tun zu haben. Nicht, weil das keine Möglichkeit wäre, sondern weil die Vorstellungen von Ordensschwestern auseinandergehen und variieren zwischen Fiktion und Tradition, während die Realität irgendwo dazwischen liegt.

Die 36-jährige Schwester Juliana trägt kein klassisches Ordensgewand, kennt sich mit Social Media aus und ist bei der größten Fridays-for-Future Demo Unterfrankens im September mit ca. 8000 Teilnehmer mitgelaufen – als Teil der „Churches for Future“.

Wie also definiert man den Beruf einer Ordensschwester und ist es nicht vielmehr eine Berufung? „Beides“ sagt sie beim ersten Gespräch und deutet damit an, wie schwierig eine solche Unterscheidung sein kann.

Um ihren Alltag außerhalb des Klosters Oberzell zu erleben, trifft man die gelernte Krankenschwester in der Gemeinschaftsunterkunft (GU) in der Veitshöchheimerstraße. Dort arbeitet sie in einem Team aus Ärzten, Pflegern und Schwestern, welches bundesweit häufig als „Würzburger Modell“ bezeichnet wird. Nach diesem Modell werden seit 2008 in der GU Geflüchtete und Asylbewerber in ambulanten Sprechstunden versorgt und beraten. Insgesamt über 500 Menschen, davon 60 bei den Erlöserschwestern und 120 der GU II in der Zellerau.
Hauptinitiator damals war Prof. August Stich von der tropenmedizinischen Abteilung des Klinikum Würzburg Mitte, Standort Missionsärztliche Klinik. Erkann jetzt auf weitsichtige Ideen zurückblicken, denn das nun etablierte System einer niederschwelligen ärztlichen Versorgung liefert messbare Vorteile. Das Team ist auch spezialisiert auf Krankheiten und Symptome, die in Deutschland meist nicht mehr relevant sind oder es nie waren. In der Folge werden niedergelassene Ärzte entlastet und seltener Notarzteinsätze angefordert, gesetzliche Vorgaben wie Impfungen überprüft und, nicht messbar aber vielleicht am wichtigsten, wird durch Kontinuität Vertrauen aufgebaut. Außergewöhnlich, und eine Erfolgsgeschichte.

Und Schwester Juliana trägt ihren Teil dazu bei. Sie kennt die Bewohner namentlich, weiß aus welchem Land sie kommen, und welche Erlebnisse sich hinter den Gesichtern verstecken. Ohne Vertrauen gibt es keinen Zugang, flüstert sie zwischen zwei Untersuchungen, denn viele Bewohner beginnen erst nach Jahren über die Vergangenheit zu reden. Juliana kennt mittlerweile etliche Erlebnisberichte und weiß welches Leid einige der Menschen erfahren haben. Sie nimmt sich abseits von Terminen Zeit um zuzuhören und tauscht sich mit Ihnen aus – sozialer Kontakt, ebenso niederschwellig. Im Gegenzug fordert sie die Menschen auch, sich einzubringen, sich nicht auszuruhen, die gebotenen Chancen zu nutzen. Ihr Wort hat Gewicht, und wenn Behandlungen, Bildungsmaßnahmen oder Impfungen anstehen, ermutigt sie höflich aber bestimmt, nicht zu zögern. Bei der Frage, ob es Bewohner gibt, die Impfungen ablehnen, muss sie schmunzeln: „Einmal erst, aber mittlerweile haben sie sich dafür entschieden“.

In der Kindersprechstunde wiegt sie Babys, zeigt einem Buben, wie man seine Körpergröße misst oder angelt auch mal etwas Süßes aus einem großen Goldfischglas, wenn der Schmerz nach einer Spritze allzu schlimm ist. Sekunden später ist die Süßigkeit verdrückt und der Schock vergessen. Ob in Englisch, Französisch oder mit Händen und Füßen irgendwie findet sich immer ein Weg und wenn nicht, weiß das Internet, was eitrige Mandelentzündung in anderen Sprachen heißt. Es wirkt als gäbe es hier keine Hindernisse, höchstens Hürden und Schwester Juliana ist bereit diese zu überwinden. Sie strahlt dann dieses Anpackende aus, diesen positiven Aktionismus, der viele Krankenschwestern auszeichnet. Ein Enthusiasmus, den wohl auch die Bewohner spüren. Sie lächeln, wenn sie die Schwester sehen, manche umarmen sie sogar und wirken für einen kleinen Moment nicht wie hilfsbedürftige oder entwurzelte Menschen, sondern wie gute Bekannte. Eine kurze Zeit in der Krieg, Vertreibung, Flucht, Hunger, Angst keine Rolle spielen und Stigmata vergessen sind. Die feste Rollenverteilung zwischen Bittsteller und Helfer löst sich für Sekunden auf und eine echte zwischenmenschliche Begegnung wird möglich. Die vielbeschworene Völkerverständigung, die erhoffte Integration, hier könnte dafür ein Fundament entstehen. Dafür braucht es allerdings Willen, Engagement und letztlich Energie.

Zu sagen, dass die Ordensschwester ihre Energie dafür im Glauben oder im Leben in Kloster Oberzell gefunden hat, wäre vielleicht zu viel Hollywood und zu wenig Unterfranken. Doch, wäre es auch falsch?

Der Malassada Mann

Es ist ein Sonntag, wie viele Sonntage in Ponta Delgada. Das Wetter hat bis zum späten Vormittag schon ein halbes Dutzend Mal seine Laune gewechselt, das ist nichts Ungewöhnliches auf den Azoren. Es ist kurz nach 11 Uhr als sich Paulo Rodriguez gerade daran macht, seinen Verkaufsstand an der Hafenpromenade aufzubauen. Sein Verkaufsstand, das ist eine ´82er Piaggio APE und sie ist Teil von Paulos Traum. 

„Ich habe mir immer gewünscht, einmal mein eigenes Business zu haben und ich habe mir gewünscht, dass ich es mit einer APE verbinden kann“ erzählt der 40-jährige. Er kann, denn Paulo hat seine APE gebraucht auf der Azoreninsel Sao Miguel gekauft und selbst umgebaut. Der hintere Teil des dreirädrigen Gefährts, das er selbst gerne mal „Truck“ nennt, ist nun ein mobiler und aufklappbarer Laden. Ein Tiny Foodtruck. Als Sonnen- und Regenschutz dienen die aufgeklappten Seitenteile, der obere Bereich des Hecks ist die Warenauslage und der untere Teil ist Kühlschrank und Stauraum für seine Ware, die Malassadas.

Malassadas (gespr: Malesadesch) sind im weitesten Sinne eine flache, scheibenartige Version von Krapfen/Berlinern und im engsten Sinne sind sie eine azoreanische Spezialität. Sie werden zwar nicht gefüllt, dafür aber Schokocreme oder Marmelade bestrichen oder einfach nur mit Zucker bestreut, und wer möchte, bekommt bei Paulo gleich noch einen Kaffee mit dazu.

Warum er Malassadas verkauft? „Weil ich etwas verkaufen wollte, dass mir selbst gut schmeckt, gebacken wird und traditionelles Handwerk ist“. Nach kurzer Recherche vor Ort war ihm klar, dass diese fast vergessene Spezialität von Sao Miguel genau in sein Wunschkonzept passt.

Als er vor vier Jahren mit seiner Frau Maria João vom Festland Portugals nach Ponta Delgada gezogen war, stand dieses Wunschkonzept noch nicht. Die Liebe für die Azoren war zwar schon entfacht, wie man aber dort genügend Geld verdienen könnte, stand noch in den Sternen. Während Maria João eine feste Anstellung in einer Apotheke erhielt, versuchte Paulo zunächst sein Glück in einem Supermarkt und anschließend im Flughafen. Doch, für den gelernten Industriemechaniker war das zu weit weg vom Traum, also machte er sich im September letzten Jahres selbstständig. Der Name seines Unternehmens: „Xuxa no dedo“ (gespr: Schuscha no dedo) – Lutsch nicht am Daumen!

Seitdem Paulo mit seinem Foodtruck auf den Straßen der größten Azoreninsel unterwegs ist, besucht er damit Stadt- und Gemeindefeste, Badestrände oder die Hafenpromenade Ponta Delgadas. Dort gehört er fast schon zum Inventar und wird von den Einheimischen gerne in Beschlag genommen, sei es bei der Mittagspause, zum Nachmittagskaffee oder einfach nur beim Warten auf den Bus. Paulo hat für die Menschen nicht nur seine Malassadas im Angebot, sondern offeriert noch etwas viel Wertvolleres – seine Zeit. Er spricht mit den Leuten, hört sich ihre Sorgen und Wünsche an, erfährt täglich neuen Gossip und wer sich mit wem verkracht oder wer sich in wen verliebt hat.

In einer Welt, die sich für viele immer schneller dreht, konserviert er nicht nur traditionelle Backkunst. Vielmehr pflegt er auch eine Umgangsform mit den Menschen, die oftmals aus der Zeit gefallen scheint und doch so gut zu ihm und seinem Traum passt. Wenn man ihm bei der Arbeit zusieht, gekleidet in Pastell- und Brauntönen, mit Schiebermütze und Leinenhemd, begegnet er den Menschen immer gelassen und höflich, oft mit einem Lächeln. Er verliert sich nicht in Hektik oder Automatismen, lieber widmet er sich seinen Kunden, raucht vielleicht auch mal eine Zigarette mit ihnen. Ab und an erkundigen die sich bei ihm auch nach seinem Wohl und dann erahnt man das anachronistische, das in seinem Traum steckt. Es ist die Freiheit, Träume ohne Tunnelblick zu leben und Dinge ohne doppelten Boden zu wagen. Ideen aus der Gründerzeit, in der Hauptrolle eine Piaggio APE, ein traditionelles Gebäck und eine Inselgruppe im Nordatlantik – neu interpretiert von Paulo Rodriguez.